Was lange währt, wird endlich gut

Die Zeiten, in denen auf Messen das große Aha-Erlebnis serviert wurde, sind vorbei bzw. passiert dies wirklich nur noch selten. Weil fast alles an Neuheiten schon vorher im Netz auftaucht, auf Neudeutsch „geleaked“ wird. Meist ohnehin im Interesse der Hersteller – oder glaubt jemand ernsthaft, dass man Erlkönig-Fotos machen kann, wenn dies nicht gewollt ist? Die Präsentationen selbst werden dann sowieso live in alle Welt gestreamt…

…und trotzdem bin ich immer wieder gern am Pressetag auf der EICMA. Zum einen bekommst du nirgendwo sonst soviel Motorrad auf einmal, zum anderen bietet sich die Gelegenheit, die neuesten Modelle erstmals in Natura anzugreifen und natürlich Kontakte zu pflegen. Noch dazu wo dieses Mal zwei Reiseenduros angesagt waren, auf die die „Szene“ seit deren ersten Präsentationen als Prototypen mit Spannung gewartet hatte. Und weil auch noch ein lieber, hoch motivierter Kollege von der Kronen Zeitung vor Ort gewesen ist, konnte ich mich voll auf mein Beuteschema konzentrieren.

Weshalb mein diesjähriger Streifzug durch die Hallen in Mailand noch weniger Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, als sonst – lasst euch mitnehmen, die Messe aus der Wolfsperspektive zu erleben: Wo’s staubt, dort zieht er am liebsten seine Spur…

• Kleine Ténéré (fast) am Ziel

KTM 790 Adventure R oder Yamaha Ténéré 700? Nein, ich plane für 2019 keinen Neukauf, auch wenn mich beide Bikes sehr reizen würden und ich mich noch selten derart auf einen Test gefreut habe. Es ging nur um die Frage, welchen Stand ich zuerst aufsuchen sollte. Die Antwort fiel leicht, da KTM erst um 13 Uhr die Hüllen von der verdeckten Adventure fallen ließ. Also auf zu Yamaha! In drei Farbvarianten wird die Ténéré 700 zu haben sein, ganze zwei Jahre nachdem sie erstmals auf der EICMA als T7 gezeigt worden war, ist sie nun endlich in der Serien-Variante angerollt. Gut schaut sie aus, ob im an die T7 angelehnten Ceramic Ice, im Competition White oder im Power Black – und vor allem: Es ist mehr von der seinerzeitigen Studie übriggeblieben, als bei vielen andern Motorrädern davor, die als Prototyp begeistern konnten und hintendrein dann (optisch) enttäuschten.

Trotzdem wirft sich die Frage auf, warum sich Yamaha mit der Wiedergeburt der kleinen Ténéré derart viel Zeit gelassen hat bzw. immer noch lässt, wird sie doch erst in der zweiten Jahreshälfte 2019 beim Händler stehen. Denn so gut mir das Konzept auch gefällt, eine Reiseenduro auf (standesgemäße 21/18-Zoll)-Speichenfelgen zu stellen, die sich aufs Wesentliche beschränkt – sensationelle Innovationen hat sie nicht an Bord. Angetrieben wird das Motorrad vom bekannten und erprobten 689-Kubik-Reihentwin, der schon seit Jahren in der MT-07, Tracer 700 oder XSR700 seinen Dienst versieht und in der Ténéré 73 PS leistet. Ein Hingucker ist die aggressive Rallye-Front mit vier LED-Scheinwerfern, auch das Cockpit kommt im Rallye-Stil daher. Der Tank fiel mit 16 Litern schlank aus, beim sparsamen Verbrauch des Zweizylinders sollten damit aber Reichweiten jenseits der 350-Kilometer-Marke durchaus realistisch sein.

Als Gewicht gibt Yamaha 205 kg "fahrfertig" an, was noch keine exakten Rückschlüsse zulässt, handhaben Hersteller diese Bezeichnung doch erfahrungsgemäß recht flexibel, üblicherweise ist aber von einem zu zwei Drittel gefüllten Tank auszugehen. Was den 193 Kilo Trockengewicht, das ein Yamaha-Mitarbeiter am Messestand inoffiziell erwähnte, realistisch erscheinen lässt. Die 43mm-Upside-Down-Gabel ist voll einstellbar, des Federbein per Ferneinstellung. Wobei der Federweg mit 210 Millimeter vorne bwz. 200 Millimeter hinten doch etwas überraschend geringer ausfällt als etwa bei einer Africa Twin oder Triumph Tiger 800 XC, die Bodenfreiheit ist mit 240 mm ordentlich. Gar nicht unbequem fühlte sich die enduromäßige Sitzbank beim Probesitzen an, die 880 Millimeter Sitzhöhe stellen durch ihre Schlankheit auch kleinere Fahrer vor keine unüberwindbare Hürde.

Verzichtet hat Yamaha auf sämtliche elektronische Helferlein, wie unterschiedliche Fahr-Modi oder Traktionskontrolle, was meiner schon oft kundgetanen Meinung für Motorräder dieser Leistungskategorie auch nicht nötig ist – dennoch in Zeiten wie diesen absolut unüblich. Wird interessant, wie das vom Kunden angenommen wird. Lediglich ABS ist mit an Bord, welches per Knopfdruck für Offroadfahrten am Hinterrad deaktiviert werden kann. Insgesamt stellt die Ténéré 700 eine absolute Bereicherung am Reiseenduro-Markt dar, die dank des bewährten, zuverlässigen Motors auch für Fernreisen eine gute Wahl sein sollte. Und auch wenn manche nach der Offenlegung der technischen Details wie Gewicht und Federweg in den sozialen Medien enttäuscht reagierten, wird man mit ihr auf unbefestigen Wegen weiter kommen, als die meisten mit einer Reiseenduro fahren wollen.

• KTM mit dem Ohr beim Kunden

Der Star der diesjährigen EICMA war, gemessen am Andrang des Publikums, aber die neue KTM 790 Adventure bzw. vor allem die 790 Adventure R! Vor exakt einem Jahr in Mailand erstmals als Studie gezeigt, rollt sie nun im Frühjahr fast unverändert bei den Händlern an. Mit einem Trockengewicht von 189 kg tritt sie an, "um den Wunsch vieler Adventure-Rider nach einem leichten, geländegängigen Motorrad zu erfüllen, das auch auf der Straße mit Top-Performance aufwarten kann", wie KTM-Österreich-Boss Chris Schipper verriet: "Und jetzt haben wir mit dem schon aus der 790 Duke bekannten Reihentwin auch das passende Motorkonzept dafür!" Dieser 799-Kubik-LC8c wurde für die Adventure in seiner Leistung auf 95 PS beschnitten, ist dafür aber mit einem Mehr an Drehmoment im unteren Drehzahlbereich durchzugsstärker geworden.  

Wie ernst es KTM mit dem Kundenwunsch der Offroadtauglichkeit nimmt, zeigen die hochwertigen Fahrwerks-Elemente von WP mit 240 Millimeter Federweg vorne (48-Millimeter-Upside-Down-Gabel) wie hinten, 263 mm Bodenfreiheit und vor allem ein aus dem Rallysport übernommener, tief positionierter Tank, der durch seinen tief liegenden Schwerpunkt speziell Offroad dem Fahrverhalten extrem zu Gute kommen soll. Ebenso wie das Trockengewicht von nur 189 kg, das bei Zweizylinder-Reiseenduros seinesgleichen suchen kann und die 790 Enduro R auch vollgetankt deutlich unter 210 kg bleiben lässt. Die Front kommt mit dem typischen KTM-Gesicht daher, am farbigen TFT-Display lassen sich alle Informationen ablesen, sämtliche Funktionen sind wie gewohnt einfach mit der Hand am linken Lenker zu bedienen. Und derer gibt es nicht wenige, wurde das Motorrad doch mit dem vollen Elektronik-Paket bzw. einer ganzen Reihe an Fahrassistenzsystemen ausgestattet, um das Fahren auf und abseits der Straße angenehmer zu machen bzw. zu erleichtern. Der 20-Liter-Tank soll Reichweiten bis zu 450 Kilometer ermöglichen, zumindest 400 dürften in jedem Fall realistisch sein. Praktisch, speziell auf der Fernreise, wofür dieses Bike ja wie gemacht scheint: Der Luftfilterkasten befindet sich unter der Sitzbank und ist somit einfach zu erreichen. Obendrein ermöglichte es diese Bauweise den KTM-Technikern auch, die Sitzbank mit 880 Millimeter bei allen "Enduro-Vorgaben" niedriger zu halten, als etwa bei einer 1090 R oder 1290 R, der schlanke Beinbereich lässt sie noch niedriger erscheinen und stellt auch kleinere Fahrer vor keine größeren Probleme.

Ohne "R" wird die KTM 790 Adventure in zwei Farben, weiß oder orange, angeboten und kommt mit einer um drei Zentimeter niedrigeren Sitzhöhe (850 mm), weniger Federweg (200 mm vorne und hinten) sowie auch entsprechend weniger Bodenfreiheit (233 mm) daher, die Gabel hat einen Durchmesser von 43 Millimeter. Die zweigeteilte Sitzbank ist bequemer, vor allem für den Sozius – da das Motorrad jedoch ebenfalls mit 21/18-Zoll-Speichenrändern ausgestattet und der tiefe Schwerpunkt unverändert blieb, sollte auch sie eine sehr gute Wahl für unbefestigte Wege sein. Im Unterschied zur R, die einen enduromäßig hohen Kotflügel hat, ist beim Standard-Modell ein "klassischer" direkt über dem Vorderreifen verbaut.

Für alle, denen die 790 Adventure immer noch zu schwer ist oder einfach Fans des nach wie vor kraftvollsten Einzylinders am Markt sind, gibt's aber noch eine gute Nachricht aus Mattighofen: KTM hat die 690 Enduro R wiederaufstehen lassen. Mit einer Leistung von 74 PS, 146 kg Trockengewicht und einem gegenüber dem letzten Modell rundum überarbeiteten Fahrwerk mit der aus den EXC-Modellen stammenden WP XPLOR-Federung (48-Millimeter-USD-Gabel, 250 Millimeter Federweg vorne wie hinten) wird sie die Herzen der großen LC4-Fangemeinde mit ziemlicher Sicherheit höher schlagen lassen. Gibt es doch nach wie vor (mit Ausnahme des Schwestern-Modells 701 Enduro von Husqvarna) kein Bike, dass sich derart souverän sowohl über Asphalt als auch über Schotterpisten jagen lässt. Von den EXC-Modellen stammt auch die Frontmaske samt Kotflügel. Das Tankvolumen ist gegenüber der letzten 690 Enduro um 1,5 auf 13,5 Liter angewachsen, was die Reichweite bei moderater Fahrweise auf bis zu 300 Kilometer erhöhen sollte, die Sitzhöhe beträgt stolze 910 Millimeter. Jene der ebenfalls wieder neu ins KTM-Programm aufgenommenen Supermoto 690 SMC R fällt um 2 Zentimeter niedriger aus, Kurven-ABS, Supermoto-Modus und Quickshifter sind selbstredend.

• Reiseenduro für Einsteiger

Nachdem Honda in den letzten Jahren mit Africa Twin bzw. Africa Twin Adventure Sports für sehr viel Bewegung am Reiseenduro-Markt sorgte, gingen es die Japaner in diesem Segment heuer ruhiger an. Auf zumindest einen Prototypen einer neuen Transalp oder Dominator wartete ich insgeheim vergeblich. Im Mittelpunkt standen auf der EICMA vor allem das der Fireblade stark ähnelnde Mittelklasse-Sportsbike CBR650R sowie dessen Pendant zur Neo Sports Cafe Modellreihe CBR650R – das umfangreiche Modell-Update für die CB500X macht diese aber im Modelljahr 2019 zu einer wirklich ernsthaften Reiseenduro für Einsteiger. Die Leistung des beliebten Zweizylinders blieb mit 48 PS unverändert, ein 19-Zoll-Vorderrad (bis dato 17 Zoll), längere Federwege und eine schmälere Sitzbank wappnen sie aber auch für gelegentliche Ausflüge abseits der Straße. Ein, wie ich im positiven Sinn meine, Brot- und Buttermoped für alle Tage, das sowohl in der Stadt als auch draußen Spaß macht. Gefallen haben mir am Honda-Stand, neben der bereits auf der Intermot gezeigten CRF450L, auch zwei avantgardistische 125er-Design-Studien aus Hondas Forschungs- und Entwicklungszentrum in Rom, die vor allem den Biker-Nachwuchs ansprechen sollen: Die weiße CB125X ist ein Adventure-Bike mit futuristischer Licht-Lösung (eines zentral, zwei in der Seitenverkleidung), die CB125M ein Naked Bike mit starken Supermoto-Anleihen. Da möchte man am liebsten noch einmal 18 sein…

• Kawasaki bringt neue Versys 1000

Natürlich nichts für staubige Naturstraßen, aber bereit für die große Reise ist die rundum erneuerte Versys 1000, die Kawasaki auf der EICMA erstmals zeigte. Vollgestopft mit allen nur erdenklichen elektronischen Features bzw. Fahrhilfe-Systemen (vor allem im Top-Modell SE) und mit einem neu entwickelten 1.043-Kubik-Vierzylinder, der satte 120 PS leistet, soll die Versys 1000 auf allen Straßen dieser Welt zuhause sein. Der Federweg von 150 Millimeter vorne und 152 Millimeter hinten garantiert auch auf schlechten, rumpeligen Straßen ein zügiges Vorankommen, zusammen mit den 17-Zoll-Rädern soll das 253 (bzw. SE 257 kg) schwere Motorrad auch im kurvigsten Terrain einfach zu handeln sein. Ein 21-Liter-Tank sorgt dafür, dass man dabei nicht allzuoft zur Tankstelle muss.

• So muss Scrambler!

Nichts Neues auf dem Reiseenduro-Sektor kam in Mailand von Triumph – dafür haben die Briten etwas auf Speichenräder gestellt, das sich im staubigen Terrain garantiert wohler fühlt, als so manch Adventurebike. Mit der zwischen Intermot und EICMA in London präsentierten Scrambler 1200 wurde das ursprüngliche Scrambler-Thema jedenfalls so konsequent umgesetzt, wie noch von keinem andern (Serien)-Motorrad zuvor. Mit 21 Zoll-Vorderrad und vor allem in der XE-(Extreme)-Variante hochwertigen, voll einstellbaren Federlementen von Showa vorne (47mm-Upside-Down-Gabel, 250mm Federweg) und Öhlins hinten (250mm Federweg) fährt man, so einem das fesche Motorrad nicht leid tut, im Schotter so einigen davon. Die XC kommt mit einem Federweg von vorne wie hinten 200 Millimeter aus (das ist immerhin noch vergleichbar – um zum Beginn dieser Messrunde zurückzukommen – mit der neuen Yamaha Ténéré 700). 90 PS aus dem 1.200-Kubik-Paralleltwin sorgen für flottes Vorankommen, abschaltbares ABS (in der XE Kurven-ABS) für die nötige Sicherheit. Sechs verschiedene Fahrmodi, inklusive "Offroad-Pro"-Modus in der XE sind ebenso ein Novum in dieser Fahrzeugklasse, wie Keyless Go, Tempomat, USB-Ladebuchse oder Triumphs erstes Kommunikationssystem, mit Bluetooth-Anbindung von Navigation, Mobiltelefon und Musikabspielfunktion. Wenig überraschend, dass man sich seinen Scrambler (scrambeln kann übrigens am ehesten mit kraxeln bzw. klettern übersetzt werden) mit unzähligem Zubehör noch individualisieren kann – das versteht sich bei den Retro-Modellen aus Hinkley quasi von selbst…

• BMW Adventure-Modelle für Kilometerfresser

Natürlich haben auch andere Hersteller auf der EICMA Interessantes gezeigt. BMW etwa legte im Schatten des neuen Supersportlers S 1000 RR für die schon vor der Intermot in Köln präsentierte neue R 1250 GS jetzt auch noch ein Adventure-Modell mit 30-Liter-Tank nach, die Sitzhöhe ist zwischen 890 und 910 Millimeter justierbar, das fahrfertige Gewicht beläuft sich auf 268 kg. Bei der nun ebenfalls präsentierten F 850 GS Adventure wuchs das Tankvolumen auf 23 Liter, was bei einem Durchschnittsverbrauch von 4,1 Liter Reichweiten von bis über 550 Kilometer erlauben soll. Das Zubehör-Programm lässt wie immer bei den Bayern ausstattungsmäßig nach oben hin keine Grenzen offen.

DANKE an Touratech für die beiden GS-Fotos



Andere Messe-Highlights wie die MV Agusta Brutale (nomen est omen), ein Naked Bike mit stolzen 212 PS, seien hier nur am Rande erwähnt – mir fehlte schon die Zeit, Ducatis neue Multistrada 1260 Enduro unter die Lupe zu nehmen. Über anderes, wie Suzukis neue Farbgebungen für die V-Strom-Modelle oder die in meinen Augen wirklich gelungene Moto Guzzi VR85 TT habe ich ja schon von der Intermot berichtet. Meine beiden "Stars" standen diesmal jedenfalls am KTM- bzw. Yamaha-Stand – und die wollte ich nicht nur so einfach im Vorbeigehen abknipsen und mir die Presse-Unterlagen in die Hand drücken lassen.

Ähnlich wie vor ein paar Jahren bei der Africa Twin, auf die die Fangemeinde ebenfalls lang warten hatte müssen, waren im Vorfeld Gerüchte bezüglich ihrer Spezifikationen aufgetaucht, die letztlich (für mich erwartungsgemäß) dann doch ein Stück von der Realität entfernt gewesen sind. Unterhält man sich mit Verantwortlichen, dann ist es in Zeiten von EURO 4 und dem bevorstehenden EURO 5 schon eine Riesensache, eine (leistbare) Zweizylinder-Reiseenduro trocken unter 200 Kilo zu bringen, 95 oder selbst 73 PS erscheinen mir auch keinesfalls untermotorisiert. Die 790 Adventure R hat das Offroad-Thema definitiv konsequenter durchgezogen und wird ganz gemäß des KTM-Slogans der Dakar-geeichten Österreicher ein gutes Stück mehr "ready to race" sein, die Ténéré 700 aber genauso ihre Fans finden und abseits befestigter Weg Spaß machen. Die Vorfreude, beide Motorräder 2019 ausgiebig zu testen, ist in Mailand jedenfalls nur gestiegen.