Wie bitte? 266 Kilo Eigengewicht? Kann nicht sein, was da im Zulassungsschein steht! So oft ich auch um dieses elegante, schlanke Motorrad herumschleiche, ich habe keine Ahnung, wo die überflüssigen Pfunde stecken sollten. Haben die von Ducati etwa Blei in den Rahmen der 950er Multi gegossen? Werner Winni Peiritsch, Chef-Techniker von Ducati-Österreich, klärt mich auf: Seit Euro 4 müss(t)en alle Hersteller im Zulassungsschein das Eigengewicht inklusive aller ab Werk angebotenen Original-Zubehörteile angeben, also mit Koffern, Topcase, Sturzbügeln, Aluminium-Motorschutz und, und, und…
…was freilich nur die wenigsten so machen. Bei Ducati wird diese Korrektheit wohl auch eher am deutschen Besitzer denn den südländischen Wurzeln liegen. Auf jeden Fall machen es diese neuen "Regulative" künftig noch schwerer, die verschiedensten Motorräder gewichtsmäßig einigermaßen objektiv zu vergleichen, als es das jetzt ohnehin schon ist, wo manche die Kilo ihrer Eisen trocken ohne jegliche Schmierstoffe, die anderen vollgetankt und die dritten fahrfertig mit 60, 70, 80 oder 90 % Sprit im Fass angeben. Und da ich keine für solche Zwecke ausreichende Waage besitze oder mir der Aufwand schlicht zu groß ist, der Wahrheit nachzugehen, muss ich mich auf mein Popometer verlassen bzw. darauf, wie sich das Motorrad beim Fahren anfühlt. Im Falle der Ducati Multistrada 950 kann ich dazu nur sagen: Definitiv nicht wie ein eingangs erwähntes Schwergewicht, sondern vielmehr dem offiziellen Trockengewicht von 205,7 kg entsprechend, agil und handlich.
Man fühlt sich jedenfalls augenblicklich wohl, wenn man auf die "kleine" Ducati steigt, mit der die Italiener nun auch in der neuen Mittelklasse an Reiseenduros oder Funbikes von +/- 1000 Kubik bzw. +/- 100 PS mitspielen. Da passt zumindest mit meiner überschaubaren Körpergröße von 1,76 Metern so ziemlich alles, was die Ergometrie betrifft. Gut, der Kniewinkel erschien mir anfangs ein wenig verbesserungswürdig, was aber mit einem einzigen Handgriff auch schon getan war: Nämlich, indem man die überdimensional dicken Gummi-Aufsätze von den Fußrasten entfernt und so nicht nur gleich fast zwei "Komfort-Zentimeter" gewinnt, sondern gleichzeitig auch solide gezackte Rasten für ordentlichen Halt beim Stehendfahren.
Keine unwesentliche Erkenntnis, denn mit der 950er wird man öfter unterwegs auch mal aufstehen, als dies bislang bei Ducatis der Fall gewesen sein mag. Hat sie doch von der Multistrada 1200 Enduro nicht nur die Dimension des Vorderrades (19 Zoll gegenüber den 17 aus der "normalen" 1200er Multi) verpasst bekommen, sondern auch deren robuste Zweiarmschwinge, die auch auf gröberem Geläuf für ein stabiles Vorwärtskommen sorgt. Das Ganze noch dazu gepaart mit einer schon erwähnten Handlichkeit, dank der sich die 950er auch abseits befestigter Wege keineswegs vor vergleichbar ausgestatteten Reiseenduros mit Gussfelgen verstecken muss. Wofür auch der ordentliche Federweg von hinten wie vorne 170 mm seines beiträgt. Im Unterschied zu den "großen Schwestern" ist das Fahrwerk nicht semiaktiv, sondern per Hand zu justieren. Was in der Praxis gut funktioniert, speziell mit dem gut zugänglichen Handrad für das fast liegend eingebaute progressive Mono-Federbein von Sachs.
Auch der Motor ist prinzipiell ein alter Bekannter und stammt aus der Hypermotard bzw. -strada. In der neuen Multi leistet der überarbeitete Zweizylinder bei 937 ccm 113 PS sowie 96 Newtonmeter. Untenrum mag er dem einen oder anderen verwöhnten Fahrer großer Reiseenduros ein wenig brustschwach vorkommen, ab fünftausend Touren wird er aber richtig agil und darüber hinaus spielt dann sowieso die Musik. Auf kurvenreichen Land- bzw. Passstraßen braucht man sich damit auch vor PS-stärkeren Motorrädern nicht verstecken. Wobei sich der Testastretta beim Fahren subjektiv ohnehin nach mehr als 113 PS anfühlt.
Die wirklich gelungene Teile-Verwertung – für die Multi 950 musste so gut wie nichts neu entwickelt sondern "nur" Vorhandenes sinnvoll zusammengebracht werden – beschränkt sich aber nicht auf den Motor oder die Zweiarmschwinge. Sie setzt sich über das ganze Motorrad fort, weshalb die 950er auch unverkennbar auf den ersten Blick eine "echte" Multistrada ist. Ob jetzt beim markanten Raubvogelgesicht, den (nachtfahrtauglichen) Scheinwerfern, dem unten liegenden Topf, der selbst in (Euro4)-Zeiten wie diesen einen formschönen, schlanken Auspuff ermöglicht oder dem bewährten Multifunktionsdisplay, auf dem sämtliche Informationen übersichtlich dargestellt werden. Und deren liefert die Ducati jede Menge. Etwa auch, welcher von vier verschiedenen Fahr-Modi gerade eingelegt ist. Zwischen denen man nicht nur während der Fahrt (bei geschlossenem Gasgriff) jederzeit hin- und herswitchen kann, sondern die alle obendrein noch individuell anpassbar sind. was Motor-Charakteristik, Drehmoment, Leistung, Funktionsweise des Zweikanal-Bosch-ABS oder der achtstufigen (!) Traktionskontrolle anbelangt. Ergibt unter dem Strich eine Vielzahl an unterschiedlichen, persönlichen Konfigurationsmöglichkeiten…
…wobei meiner Meinung nach bereits die Standard-Einstellungen Sport, Urban, Touring und Enduro durchaus gelungen sind. Speziell der Sport- und Enduro-Modus. Ersterer bringt das Potential des Motorrads richtig gut auf die Straße, die Traktionskontrolle greift sehr spät ein, die Gasannahme ist direkt – was nicht nur für die Fahrt mit dem Messer zwischen den Zähnen gut ist, sondern ganz allgemein: Schließlich will man eine Ducati spüren. Auch im Touring-Mode stehen die vollen 113 PS zur Verfügung, die zurückhaltendere Gasannahme ist aber ebensowenig mein Ding wie die nach meinem Geschmack zu früh eingreifende Traktionskontrolle. Lässt sich aber alles wie gesagt adaptieren und abspeichern, womit man dann vier unterschiedliche, ganz persönlich eingestellte "Set-Ups" fahren kann. 75 PS bringt der Motor im Urban-Modus (ich würde ihn als Regenmodus bezeichnen und eigentlich nur auf nasser Straße empfehlen) sowie im Enduro-Modus ans Hinterrad – bei letzterem ist das ABS am Hinterrad deaktiviert, fühlte ich mich auf unbefestigten Wegen fast ohne Eingewöhnung extrem wohl. Einzig das etwas eng am Motorrad liegende Bremspedal ist fürs Stehendfahren nicht optimal positioniert, ansonsten gibt's aber wenig zu meckern. Außer vielleicht noch, dass ein stabiler Alu-Motorschutz nur im Zubehör erhältlich ist, das serienmäßige Plastik-Teil zwar auch recht fest sitzt, bei ernsthaftem Bodenkontakt aber wohl bald die Flügel strecken würde.
"Der Wolf hatte ja eigentlich darauf getippt, dass ich der Ducati nur drei Wölfe spendiere (er schreibt seine Erwartung immer separat auf einen Zettel, ohne dass ich sie sehe, und liegt dabei meistens richtig) – aber dazu saß ich viel zu bequem drauf, passte für mich vom Kniewinkel über den Sitzkomfort eigentlich alles. Auch die recht sportliche Federung empfand ich als nicht zu hart, die Multistrada 950 ist definitiv auch ein Motorrad für die Reise zu zweit, sofern nicht gleich zwei Schwergewichte darauf Platz nehmen.“
* Legende
Nichts zu meckern gibt es auch, was die Bremsen betrifft, ganz im Gegenteil. Giftig genug für die Kurvenhatz auf der Straße, beißen sie dank des unterschiedlichen ABS-Abstimmung im Enduro-Modus nicht zu fest zu, wenngleich man da beim Anker werfen auch immer mittels Hinterradbremse das Motorrad stabilisieren sollte. Die Reifenwahl ab Werk ist mit dem Pirelli Scorpion Trail 2 eine gelungene und zeigt, dass die Multi dann doch vornehmlich auf der Straße bewegt werden will – die Gummis erlauben Schräglagen bis an die Rasten (die so wie die Stiefel in der gemeinsamen Woche aber nur selten Bodenkontakt hatten, was für die Schräglagenfreiheit des Motorrads spricht) und sind in der neuesten Generation auch im Regen bzw. was die Laufleistung betrifft gut. Wer regelmäßig befestigte Wege verlässt, wird jedoch bald anderes aufziehen, ein TKC 70 von Conti oder TrailRider bzw. TrekRider von Avon würden der "kleinen" Multi bestimmt auch nicht schlecht zu Gesicht stehen, ebenso ein Heidenau K60 Scout oder vergleichbare Gummis.
Die Multistrada 950 ist aber definitiv nicht (nur) ein Hobel zum Gas geben, sondern auch bereit für die Reise. Dafür sorgen neben den im Zubehör (oder von Fremdherstellern) erhältlichen Gepäcksystemen eine angenehm entspannte Sitzposition für Fahrer und Beifahrer, bequeme Sitzmöbel, zwei 12-Volt-Steckdosen (im Cockpit bzw. unter der Sitzbank) oder auch ein richtig guter Windschutz. Dass das Windschild auch während der Fahrt bequem mit nur einer Hand zu verstellen ist, habe ich schon bei der großen Multistrada 1200 Enduro geschätzt – ein Feature, das Sinn und Spaß macht! Bei einem Testverbrauch von 5,6 Liter auf 100 Kilometer sind in Verbindung mit dem 20-Liter-Tank Reichweiten von deutlich über 300 Kilometer möglich, mehr wirst du kaum irgendwo brauchen, wo du mit diesem Motorrad hinfahren willst.
+ Das Handling ist außerordentlich gut, egal ob auf kurvigen Pass-Straßen oder auch auf Schotter
+ Fahrmodi individuell anpassbar, was eine Vielzahl an eigenen Einstellmöglichkeiten ergibt
+ Windschild während der Fahrt einfach per Hand verstellbar
– Hakelige Gangschaltung in den niedrigen Gängen, mitunter war das Motorrad unvermittelt im Leerlauf
– Fußbremshebel fürs Stehendfahren nicht ideal, weil zu weit innenliegend
– Motorschutz aus Plastik, jener aus Aluminium bleibt serienmäßig der großen 1200 Enduro vorbehalten
Fazit:
Ja welche Multi nehmen wir denn jetzt? Hand aufs Herz: Würde ich mir eines der drei aktuellen Modelle aussuchen dürfen, würde meine Wahl auf die 950er fallen. Nicht, weil sie die klar günstigste ist – das ist zwar auch kein zu verachtendes Argument für die "Kleine" gegenüber der Multistrada 1200 bzw. Multistrada 1200 Enduro, wäre es aber nicht im fiktiven Fall – sondern weil sie in meinen Augen einfach das rundum kompletteste bzw. ausgewogenste Paket darstellt, wenn man auf Kraft im Überfluss verzichten kann. Das hätte man auch kaum besser hinbekommen können, wenn man ein komplett neues bzw. eigenes Motorrad konstruiert hätte, ist aber umso bemerkenswerter, als dass sie sich ja hauptsächlich aus bereits vorhandenen Komponenten zusammensetzt. Und selbst wenn sie vornehmlich eher den Straßenfahrer ansprechen wird, überfordert die Ducati auch nicht abseits befestigter Wege, wo man damit weiter kommt, als ihr viele vielleicht zutrauen würden. Auch Ein- und Aufsteiger werden sich auf der Multistrada 950 rasch zurecht finden, ohne dass sie deshalb den versierten Motorradfahrer langweilt. Es hat jedenfalls richtig Spaß gemacht, sie eine Woche lang über meine Hausstrecken zu treiben.
© 08/2017
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