Für den ersten Eindruck hast du keine zweite Chance. Und dieser ist bei der CRF 250 RALLY von Honda absolut gelungen, wenn die Kleine so vor dir steht im sportlichen Kleid des Dakar-Racers des HRC-Werksteams. Sogar den passenden Sticker-Satz mit sämtlichen Sponsoren der CRF 450 RALLY kann man gleich ab Werk mitbestellen…
Wobei einem natürlich klar sein muss, dass die auf der CRF250 L basierende "kleine Rally" kein Wettbewerbs-Motorrad ist. Sondern vielmehr eine alltagstaugliche Enduro, wie es sie in der heutigen Schneller-Stärker-Größer-Welt leider nur noch (zu) selten gibt. Sowohl was den Anschaffungspreis (in Ö € 6.390,-) als auch die Erhaltung betrifft, absolut leist- und vielseitig einsetzbar. Ob einem der Mehrpreis von € 1.200 gegenüber der L, die ab 2017 dank Euro 4 nun auch über ABS verfügt, wert ist, muss jeder für sich entscheiden bzw. wird vom persönlichen Anforderungsprofil abhängen. Die Unterschiede im Detail: Neben nach außen hin sichtbaren Features wie Windschild, größerem Tank und Verkleidung, die allesamt der Langstreckentauglichkeit zu Gute kommen, wartet die Rally auch mit einem Plus an Bodenfreiheit von 15mm (270 gegenüber 255), einem Mehr an Federweg am Hinterrad (265mm gegenüber 240, vorne gibt's bei beiden 250mm), einem veränderten Lenkkopfwinkel (28,1° gegenüber 27,6°) sowie einer um 20mm höheren Sitzbank (895 gegenüber 875mm) auf. Dies alles schlägt sich freilich auch mit einem Mehr-Gewicht von trocken knapp unter zehn Kilo zu Buche: Vollgetankt wiegt die Honda CRF 250 Rally mit 10,1 Liter Sprit an Bord 157 kg, während die CRF 250 L lediglich 146 kg (bei 7,8 Liter Tankvolumen) auf die Waage bringt.
Die "Honda-Geschwister" CRF 250 Rally und CRF 250 L im optischen Vergleich: Fotos: Honda
Doch zurück zur Rally, die ich Anfang April 2017 10 Tage lang ausgiebig über Stock und Stein bewegen konnte und die trotz ihres sportlichen Äußeren weder punkto Gewicht und schon gar nicht von der Leistung her Maßstäbe setzt. Mit 25 PS oder einem Drehmoment von 22,6 Newtonmetern nimmt sich diese auf den ersten Blick recht überschaubar aus, trotzdem wähnt man sich im Sattel der Honda selten untermotorisiert. Ich fühlte mich jedenfalls vom allerersten Aufsteigen an pudelwohl – man sitzt enduromäßig auf und nicht im Motorrad, fühlt sich augenblicklich vertraut. Ob im dichten Stadtverkehr oder auf unbefestigtem Untergrund lässt sich die Rally spielerisch bewegen, selbst Gelände-Einsteiger sind damit nicht überfordert. Wofür schon der sanft ansprechende, butterweich zu schaltende Einzylinder sorgt. Trotzdem kann sie auch beherzte Gangart! Bei allen Strecken die ich in der gemeinsamen Zeit gefahren bin, machten sich auch die etwa 20 kg Mehrgewicht gegenüber meiner wirklich rallytauglichen CCM GP 450 nie bemerkbar – wenn, dann hätte ich mir ab und an das eine oder andere PS mehr gewünscht, etwa beim Überholen oder auf langen Geraden. Dafür treibt dir die Rally an der Tankstelle ein breites Grinsen ins Gesicht, mein Testverbrauch von 3,3 Liter auf 100 km lässt Reichweiten von 300 km pro Tankfüllung zu, auch die von Honda "versprochenen" 320 Kilometer erscheinen mir bei etwas defensiverer Fahrweise realistisch.
Und spätestens bei den benutzerfreundlichen Service-Intervallen von 12.000 (!) Kilometern schaust du sowieso nur noch mitleidig zu den Sportendurofahrern rüber, auch wenn dir die im härteren Gelände den Auspuff zeigen.
Die Rally spielt ihre Vorzüge vor allem beim Endurowandern aus und ihr für eine 250er relativ hohes Gewicht durch ihre Ausgewogen- bzw. Ausgereiftheit geschickt runter. Wobei ich mir vorstellen kann, das großgewachsene Fahrer trotz ihrer stolzen Höhe beim Stehendfahren mit der Rally ab Werk auf keinen grünen Zweig kommen bzw. in die Bastelkiste greifen müssen – ich würde mir jedenfalls schon mit meinen 1,76 m Körpergröße eine Lenker-Erhöhung montieren. Und auch wenn viele der verbauten Komponenten naturgemäß nicht an die Leichtbauteile in (weit teureren) Hard-Enduros heran kommen, so wirkt das Motorrad robust und in keinster Weise billig. Die Fußrasten etwa sind nicht nur solide, sondern bieten auch genug Aufstandsfläche beim Stehendfahren – die würden in meinen Augen auch der Africa Twin gut zu Gesichte stehen. Der Ganghebel ist klappbar, was man nach Stürzen oder Umfallern im Gelände bald schätzen wird, auch der Kettenspanner richtig ordentlich. Die Räder sind mit vorne 21 und hinten 18 Zoll genauso state of the (enduro)art wie die schon erwähnten Federwege. Und auch die serienmäßig aufgezogenen Stollenreifen vom japanischen Hersteller IRC passen sehr gut zur Honda, halten auf der Straße selbst bei zügiger Kurvenfahrt und zeigten Offroad keine Schwächen, wenngleich ich nicht unerwähnt lassen will, dass schlammige Passagen nicht auf unserem gemeinsamen Menüplan standen.
Der Kunststoff-Motorschutz sollte seinen Job ebenfalls erledigen, solange man nicht gleich mit voller Wucht auf einen Felsblock kracht, einzig die Handprotektoren würden bei mir wohl gleich ausgetauscht werden – die Originalen sind eher nur Wind- und Wetterschutz und nix für Offroadtouren. Apropos Wind: Hinter dem Windschild fährt es sich angenehm, wobei das bei einer Reisegeschwindigkeit von vielleicht höchstens 110 km/h (alles darüber hinaus quält den Single im Dauerbetrieb wohl doch zu sehr) nicht allzu schwer ist. Die Sitzbank geht zwar naturgemäß nicht als Sofa durch, ist aber doch weit bequemer als andere Enduro-Bretteln, auch lange Etappen waren problemlos auszuhalten. Praktisch ist auch das mit dem Zündschlüssel versperrbare Staufach für Werkzeug, Verbandspäckchen oder persönliche Kleinteile auf der gegenüberliegenden Seite des Schalldämpfers.
Die digitalen Instrumente liefern gut sichtbar sämtliche Infos, die man unterwegs benötigt und verfügen auch über zwei Tages-Tripzähler. Wie bei modernen Enduros üblich, lässt sich das ABS am Hinterrad deaktivieren, indem man im Stillstand länger auf den gut sichtbaren Knopf rechts unterhalb der Armaturen drückt – eine Prozedur, die man Euro 4 geschuldet nach jedem Neustart wiederholen muss. Man wird diese Routine Offroad zu schätzen wissen, ebenso die harmonisch ansprechenden Bremsen mit jeweils einer Scheibe vorne (256 mm) wie hinten (250 mm), die erst bei der sportlicheren Kurvenhatz auf Asphalt an ihre Grenzen stoßen.
Endurowanderer werden mit Sicherheit auch die zurückhaltende Geräuschkulisse des sparsamen Einzylinders schätzen – weit davon entfernt, den Förster schon in einigen Kilometern Entfernung auf den Plan zu rufen oder das Fußvolk zu verschrecken. Die Sozius-Rasten sind unausgeklappt dezent in der Verkleidung versenkt, was auch gut so ist: Denn wirklich oft brauchen wird man die nicht, auch wenn ich Mel zwecks Sozia-Check zu einer kurzen, gemeinsamen Runde vergatterte – wenn sie schon mal montiert sind…
"Gefallen hat sie mir ja wirklich sehr gut, die Honda – aber mitfahren ist halt schon was anderes. Die Knie sind extrem angewinkelt, der Platz äußerst bescheiden. Dazu kommt eine Sitzbank, die dir den Zustand der Straße eins zu eins auf den Allerwertesten spielt. Kurzstrecken in der Stadt oder Mal rasch zum Badeteich okay, Tour möchte ich damit keine fahren. Auch weil du am Sozius-Sitz spürst, wie schwer sich das Bike bei jeder Steigung oder beim Überholen tut - und das, obwohl wir zu zweit das zulässige Gesamtgewicht nicht einmal annähernd kratzten. Daher: Ein Wolf – that's it!"
* Legende
Fazit:
Natürlich könnte man nüchtern betrachtet vom Schaf im Wolfspelz sprechen, wenn man die Leistungsdaten dem sportlichen Rally-Outfit gegenüberstellt. Aber richtig eingesetzt ist die kleine Rally von Honda ein Spaßmacher erster Güte. Ich würde sie vor allem Einsteigern empfehlen, die ein handliches, zuverlässiges, gleichermaßen in Anschaffung wie Erhaltung günstiges Motorrad suchen, das sowohl in der Stadt als auch am Wochenende im Wald bzw. auf der Alm einfach zu bewegen ist. Oder als Zweit- und Drittmotorrad fürs Endurowandern, bei der richtigen Streckenwahl durchaus auch als leichte Reiseenduro, wenn der Schwerpunkt auf unbefestigten Wegen liegt. Ich würde jedenfalls keine Sekunde zögern, die Honda CRF250 RALLY für die nächste Balkan-Tour zu satteln oder mit ihr meine Schotterfavoriten im Friaul unter die Speichenräder zu nehmen – vorausgesetzt es ist genügend Zeit im (Soft)-Gepäck dabei, um die Autobahn links liegen zu lassen. Es ist ihre Vielseitigkeit, die sie zu einer gelungenen Alltagsenduro macht, mit der sich nicht zuletzt wegen ihrer entschleunigenden DNA ganz ausgezeichnet dem Alltag entfliehen lässt. Ähnliches gilt auch für die CRF250 L.
© 04/2017
Mein neuer Helm:
Seit März fahre ich mit dem Touratech Aventuro Pro Carbon Jetzt bereit zur Anprobe & Testfahrt bei www.touratech.at
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Reisen ist tödlich
für Vorurteile.
Mark Twain
Unter Motorradfahrern gibt es keine Fremden - nur Freunde, die man noch nicht getroffen hat.
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