Seit 2007 zaubert die Kawasaki Versys 650 ihren Besitzern ein Grinsen unter den Helm. Die Veränderungen haben sich seither in Grenzen gehalten. Neben anfänglich geringfügigen optischen Retuschen gab es 2015 die einzige tiefer greifende Modellpflege, als die Leistung von 64 auf 69 PS angehoben, nebst eines neuen Gesichts der gesamte Auftritt des Motorrads dank größerem Tank und besserem Windschutz "erwachsener" wurde. Das Konzept des hochbeinigen, tourentauglichen "Fun-Bikes" mit großen Federwegen und einer aufrechten Sitzposition, das heute gerne auch "Crossover-Bike" genannt wird, blieb jedoch unverändert. Ich habe mir zwei Wochen lang ganz genau angesehen, ob die Versys 650 auch im Modelljahr 2020 noch immer vor allem für Fahrspaß steht.
Der Reihen-Zweizylinder, dessen erwähnte Höchstleistung von 69 PS bei 8.500 U/min anliegt (das maximale Drehmoment von 64 Newtonmeter steht bei 7.000 U/min zur Verfügung), hängt von unten heraus sowie in der Mitte satt am Gas bzw. kann da mit einer ansehnlichen Leistungsentfaltung aufwarten. Einzig oben raus würde man sich manchmal noch etwas mehr Punch wünschen. Nicht, weil das Triebwerk für einen 649-ccm-Paralleltwin schwachbrüstig wäre, sondern ganz einfach, weil die sprichwörtliche Agilität der Versys ab und an beim Rausbeschleunigen aus der Kurve einfach nach "Zugabe" schreit.
Und Kurven sind auch der "natürliche Lebensbereich" dieses Motorrads, je enger, desto besser! Das 17-Zoll-Vorderrad lässt sich fast im Supermoto-Style durchs Winkelwerk dirigieren, die Schräglagenfreiheit ist gut, nur selten hatte ich die Stiefel oder gar Rasten am Boden. Auch das Fahrwerk hat nichts gegen richtig flotte Einlagen: Vorne versieht eine 41-Millimeter-Upside-Down-Gabel von Showa mit 150 Millimeter Federweg ihren Dienst. Die ist in Zugstufe und Federbasis einstellbar und schluckt nicht nur brav Bodenwellen, sondern bietet auch eine gute Rückmeldung. Selbst die Fahrt über das Kopfsteinpflaster der Wiener Höhenstraße oder rumpelige Straßen mit Schlaglöchern bringt die Dämpfer nicht wirklich in Verlegenheit. Das Federbein mit 145 mm Federweg ist per praktischem Handrad in der Vorspannung auf die Beladung adjustierbar und machte auch zu zweit eine ordentlich Figur.
Selbiges gilt für die Bremsen von Nissin. Vorne verbeissen sich die Doppelkolben in zwei 300-mm-Scheiben, hinten ist eine 250-mm-Scheibe montiert. Sie sind gut dosierbar und verzögern das Motorrad der Leistung entsprechend, nicht zu giftig, aber doch punktgenau. Wie überhaupt so ziemlich alles an diesem Motorrad ausgereift wirkt. Da fühlt man sich sofort wohl und glaubt nach wenigen Kilometern, schon ewig damit unterwegs zu sein.
Die Sitzposition ist angenehm entspannt, der Sattel bequem genug auch für ausgedehnte Touren. Mit 840 Millimeter ist die Sitzhöhe aufgrund der Federwege nicht die niedrigste, für Fahrer über 1,70 m sollte es aber aufgrund der Handlichkeit kein Problem geben, auch wenn sie nicht mit den Fersen zum Boden gelangen. Gut ist der Wind- und Wetterschutz mit dem stufenlos ohne Werkzeug in einem Bereich von 60 Millimeter verstellbarem Windschild.
"Ich war richtiggehend überrascht, dass der Wolf nicht ein einziges Mal auf Schotter abgebogen ist, als wir zusammen unterwegs gewesen sind – auch wenn er irgendwas von der Radgröße von 17 Zoll oder so erzählte, als ob ihn sowas je gestört hat. Ich fand die Versys jedenfalls bequem, der Sitz ist angenehm, der Kniewinkel nicht zu spitz, das ist durchaus ein Motorrad, mit dem man zu zweit auf Reise gehen kann, wenn man nicht allzuviel Platz hinten braucht. Von mir gibt's gute drei Wölfe, soll heißen näher an deren vier als an zwei."
Die Reisetauglichkeit der mittleren Versys (neben 650 und 1000 wird ja mittlerweile auch eine Versys 300 angeboten) unterstreicht auch die tolle Zuladung von 210 Kilo – da könnte sich manch größere Reiseenduro ein Scheibchen abschneiden – sowie der ab Modelljahr 2020 benutzerfreundliche Service-Intervall von 12.000 Kilometer bzw. einmal jährlich. Für alle, die damit wirklich auf Tour gehen wollen, bietet Kawasaki verschiedene Ausstattungsvarianten an (Tourer, Tourer Plus, Grand Tourer), die nützliches Zubehör wie gut ins Erscheinungsbild passende Koffersets (mit dem Zündschlüssel zu öffnen), soliden Hand-Guards bzw. USB-Steckdose, Topcase, LED-Zusatzscheinwerfer etc. umfassen.
Was man an der Kawasaki Versys vergeblich sucht, sind Fahrmodi bzw. auch elektronische Helfer wie Traktionskontrolle oder Kurven-ABS. Lediglich das vorgeschriebene ABS (nicht abschaltbar) ist an Bord, ansonsten handelt es sich noch um eine puristische Fahrmaschine, ganz so wie 2007, als sie auf den Markt gekommen ist. Wobei man bei einem 69-PS-Motororad die Traktionskontrolle auch nicht wirklich vermisst, der eine oder andere Mitbewerber bietet dieses Sicherheits-Feature aber mittlerweile eben selbst in der A2-Führerschein-Klasse an (wofür die Versys auf 48 PS gedrosselt werden kann). Die Amaturen sind ebenfalls "klassisch" gehalten, oberhalb der digitalten Darstellung von Geschwindigkeit, Gang- und Benzinanzeige bzw. der beiden Trip-Zähler ist als zentrales Element der analoge Drehzahlmesser platziert. Alles recht gut ablesbar.
Genehmigt hat sich die Versys 650 im Test 4,8 Liter auf 100 Kilometer – womit sie zwar gemessen an der Leistung kein Sparmeister ist, in Verbindung mit einem 21-Liter-Tank aber dennoch stolze Reichweiten von um die 400 Kilometer möglich sind. Ausflüge auf Feld- und Schotterwege sind schon wegen der ordentlichen Federwege kein Problem, wenn es auf Schotter allerdings gröber und schneller werden soll, dann wird es mit dem "Adventure-Tourer" nicht zuletzt wegen des 17-Zoll-Vorderrades doch relativ rasch unkomfortabel. An der anderen Hand ist gerade dieses auch zu einem gehörigen Teil dafür mitverantwortlich, dass du nur in die Kurve schauen musst, und die Versys ist schon drinnen. Als Serienbereifung setzt Kawasaki wie bei der großen Schwester Versys 1000 auf den T31 von Bridgestone, der insgesamt eine gute Wahl für das Motorrad darstellt.
Die Kawasaki Versys kann nichts am besten, aber doch alles recht gut – weshalb ich mir noch selten so schwer tat, drei Dinge zu finden, die der Wolf nicht mag. Das heißt natürlich keinesfalls, dass sie das beste Motorrad wäre, das ich in letzter Zeit getestet habe, aber gemessen an Erwartungshaltung und Vielseitigkeit gibt es eben nur wenig zu bekritteln.
+ Agilität je enger die Kurven, desto mehr ist die Versys in ihrem Element
+ Der Motor geht von unten raus und in der Mitte kräftig zu Werke
+ Preis-/Leistungsverhältnis ein derart vielseitiges Motorrad um
8.000 Euro ist aller Ehren wert
– ABS nicht abschaltbar
– Der Motor könnte oben raus etwas mehr Bums vertragen (bzw. die sportliche Note weiter unterstreichen)
– Offroad setzt das 17-Zoll-Vorderrad früher die Grenzen, als dies ob der Federwege notwendig wäre
Fazit:
Wer auf ein modernes TFT-Display ebenso verzichten kann, wie auf verschiedene Fahrmodi oder eine Traktionskontrolle, der findet mit der Kawasaki Versys 650 ein wahrscheinlich weitläufig unterschätztes Motorrad für alle Tage, mit dem man sich praktisch überall wohl fühlt: Für den Weg ins Büro genauso, wie die flotte Afterwork-Runde oder die ausgedehnte Tour bzw. Reise. Im Stadtverkehr genauso wie auf der Autobahn und vor allem auf kurvenreichen Landstraßen. Dort fühlt sie sich am wohlsten, ist ebenso leicht ums Eck dirigiert, wie am Hinterrad, zaubert dem Piloten regelmäßig ein Grinsen unter den Helm. All das übrigens, ohne dabei Ein- oder Wiedereinsteiger zu überfordern. Ein ziemlich großer Spagat für überschaubares Geld.
© 06/2020
Mein neuer Helm:
Seit März fahre ich mit dem Touratech Aventuro Pro Carbon Jetzt bereit zur Anprobe & Testfahrt bei www.touratech.at
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Mark Twain
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